Mama-Streit: Wie viel Wahrheit verträgt ein Kind?

25. Oktober 2017

The Nachtsheim Session - Part One12.2.2014@ Niels StarnickKatharina

Neulich saß ich mit meiner sechsjährigen Tochter und meiner achtjährigen Nichte in der U-Bahn, als meine Nichte plötzlich sagte: „Scheiß-Nazis!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig, sah dann aber, dass der junge Mann mit den bunten Haaren uns gegenüber genau das auf seiner Jeans-Jacke stehen hatte. „Was sind Nazis?“, fragte meine Tochter. Und ich fing an zu stammeln.
Denn: Wo fängt man an, wo hört man auf? Muss ich meiner Erstklässlerin schon von Massenmorden, von unfassbaren Gräueltaten erzählen – oder reicht ein „Das waren schreckliche Menschen, die anderen Menschen viel Unrecht angetan haben.“ Ja, ich finde das reicht!

In einer Zeit, in der Kinder für meinen Geschmack oft zu früh Zugang zu Informationen/Internet haben, möchte ich mitbestimmen, was sie wann erfahren. Ich möchte sie nicht zu früh belasten, ihnen nicht von Anfang an alles erklären.
In meiner Kindheit war das so: ich interessierte mich wenig für das, was in der Welt geschah. Wichtig waren meine Freunde und ich. Für uns spielte sich das Leben auf den Wiesen hinter unseren Häusern ab. Ich durfte die 20 Uhr Nachrichten nicht schauen und erst als ich richtig gut lesen konnte, guckte ich ab und zu mal in die Zeitung, die bei uns zu Hause rum lag. Klar frage ich dann mal nach, aber meine Mutter erklärte nur grob und ging nie in Details.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere Generation ihre Kinder wie kleine Erwachsene behandelt. Sie wollen die Kinder in alles mit einbeziehen und ihnen die Welt erklären. Ich frage mich dann oft: Warum? Warum müssen Kinder alles wissen? Was bringt ihnen das? Wie sollen Kinder die Bilder von Terroranschlägen verarbeiten? Wie sollen sie verstehen, dass Menschen sich immer wieder Grausames antun?

Ich glaube, das schürt nur Angst. Weil es für Kinder nicht greifbar ist, weil sie im Kopf noch nicht so weit sind, das Geschehene einzuordnen. Deshalb ja – ich drücke mich bei Nachfragen vor der kompletten Wahrheit, ich weiche auch mal aus und bleibe meist sehr ungenau. Ich werde auf ihre Fragen antworten – dann, wenn ich das Gefühl habe, dass sie reif dafür sind.

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In dieser Woche lagen unsere Kinder mal wieder länger wach, als sie sollten. Am nächsten Tag war Schule, ich wollte nur kurz „Gute Nacht“ sagen, aber wie das so oft ist: Am Abend kreisen auch bei den Kleinsten die Gedanken. Da kommen dann Fragen wie: Glaubst du an Gott? Oder: Warum gibt es eigentlich Zwangsehen?

Bitte was, fragt man sich dann. Wie kommen sie auf solche Themen? Aber klar, unsere Kinder leben nicht isoliert, sie bekommen unheimlich viel mit in einer Welt, in der sich Informationen rasant verbreiten. Und in einem Haushalt wie bei uns, wo immer irgendeine Zeitung auf dem Tisch liegt oder eine Nachrichtensendung läuft.

Warum es Zwangsehen gibt und warum Ehrenmorde, das wollten meine kleinen großen Grundschüler also wissen. „Ich werde Bundeskanzler von der Türkei“, sagte der eine schließlich. Dann würde er das alles verbieten und abschaffen. Schön, diese Leichigkeit, mit der Themen noch eingeordnet werden können in diesem Alter, in dem zwischen Gut und Böse noch gar nicht so viel existiert. Wie viel Wahrheit können wir ihnen zumuten? Wir finden: Eine Menge. Und halten es so: Wenn uns unsere Kinder etwas fragen, dann versuchen wir, ehrlich, aber in kindlicher Dosierung darauf zu antworten. Aber auch hier machen wir Unterschiede. Auf die Frage „Werden Babys vom Storch gebracht“, gibt es ein klares „Nein“. Auf die Frage „Uh, habt ihr nach unserer Geburt nochmal Sex gemacht“ müssen wir nicht mit derselben Klarheit antworten, denn hier geht es nicht um Bildung und Aufklärung, sondern um pure Neugier. Trotzdem schweigen wir auch da nicht. Wir sagen, dass es Dinge gibt, die zur Privatsphäre eines jeden Menschen gehören.

Nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin haben wir den Kindern erklärt, was geschehen ist. Schließlich sind sie dort geboren und aufgewachsen und wir waren sicher, dass sie sonst von anderer Seite mit dem Thema konfrontiert werden. Wenn aber am Brüsseler Flughafen eine Bombe detoniert, dann wägen wir ab. Ist das relevant für sie? Wenn nicht, sehen wir keinen Anlass, ihnen diese Nachricht unbedingt beim Abendessen zu erzählen.

Unsere Kinder wissen von den Anschlägen am 11. September. Sie wissen, dass es Menschen gibt, die es lieber hätten, wenn in unserem Land keine Flüchtlinge aufgenommen würden („Wieso denn?“). Sie wissen, dass es Länder gibt, in denen Menschen nicht genug zu essen haben und dass Kinder durch Sex entstehen und nicht vom Storch gebracht werden. Es ist uns wichtig, dass sie die Wahrheit erfahren, wenn sie danach fragen. Das mag sie manchmal überfordern, aber es ist uns wichtig, dass sie nicht in einer Blase groß werden und später plötzlich überascht sind, wie es wirklich da draußen in der Welt aussieht.Merken

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Katharina und Lisa

Als drittes von fünf Kindern war Katharina immer klar: Sie will selbst auch eine große Familie haben. Mhhhh - doch dann kam zuerst das Studium, eine Ausbildung und schwupps war sie Ende 20, als ihre Tochter geboren wurde. Heute ist sie, Katharina, 33. Im Januar kam Baby Nr. 2 , der Traum von der Großfamilie besteht immer noch. Und weil die ja nicht nur von Luft und Liebe leben kann, arbeite sie als Journalistin mit Themenschwerpunkt... genau: Familie. Lisa ist 32 und beschäftigt sich, seit sie Mutter dreier Kinder ist, natürlich oft und viel mit Familienthemen. Um nicht ihrem gesamten Freundeskreis mit Kinder-Anekdoten zu nerven, schreibt sie in vielen Ecken und Enden des Internets darüber, z.B. bei www.nusenblaten.de oder www.stadtlandmama.de. Mit Kindern, Mann, Großeltern und vielen Tieren lebt sie direkt am Waldrand. Ihre eigene Kindheit verbrachte sie vor allem auf dem Fußballplatz, auf dem ihr Bruder kickte, während sie mit dem Einrad drumherum kurvte... Gemeinsam schreiben Katharina und Lisa unsere Kolumne "Mama-Streit".

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