Mama-Streit: Sollten Kinder schon vor der Einschulung lesen und schreiben können?

1. Juni 2016

Katharina The Nachtsheim Session - Part One12.2.2014@ Niels Starnick

Als ich in die Schule kam, war ich schrecklich aufgeregt. Zum einen, weil ich extra ein neues Kleid zur Einschulung bekam, zum anderen, weil ich ENDLICH lesen und schreiben lernen wollte. Ich weiß aber auch noch, dass mir der Abschied aus dem Kindergarten sehr schwer gefallen ist. Es war ein richtiger Kleinstadt-Kindergarten, mit Erziehern, die wir Tanten nannten und großem Garten. Dort spielten und tobten wir ausgelassen, ohne jeden Druck. Meist ist es ja immer so bei einem neuen Lebensabschnitt: Freude und Wehmut mischt sich. Doch wahrscheinlich habe ich die Wehmut schnell vergessen, denn in der Grundschule war ja alles so spannend. Endlich machten diese Buchstaben Sinn, endlich verstand ich die Laute. Wir Erstklässler hingen wie gebannt an den Lippen der Lehrerin, weil alles neu für uns war. Zu meiner Zeit konnte nämlich niemand vor der Einschulung lesen und schreiben. Und heute? Heute scheint es völlig normal zu sein, dass Vierjährige schon so weit sind wie Zweitklässler. Ich finde das seltsam und noch seltsamer finde ich Eltern, die ihre Kinder schon vor der Einschulung zu Hause unterrichten. „Heute können das alle. Ich will nicht, dass meine Tochter schon mit einem Defizit startet“, sagte eine Mutter, die regelmäßig mit ihrem Kita-Kind lesen übt,  mal zu mir. Und sofort begann ich zu überlegen: Sollte ich das auch tun? Schade ich meiner Tochter, wenn ich sie nicht zum Lesen und Schreiben animiere? Meine Antwort ist NEIN. Die Kindergarten-Zeit ist wohl die unbeschwerteste Zeit in ihrem Leben. Sie soll auf Bäume klettern, mit der Puppenküche spielen, ausmalen. Das bedeutet nicht, dass ich die Neugier meiner Tochter auf Neues nicht stille. Wie aus dem Nichts hatte sie den Wunsch, ihren Namen zu schreiben. Also habe ich ihn vorgeschrieben und sie hat ihn geübt. Aber es war IHR Wunsch und nicht meiner. Es war kindliche Neugier und keine schulvorbereitende Aktion. „Alles zu seiner Zeit“, pflegt meine Oma immer zu sagen. Und daran glaube auch ich fest.

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„ABC, die Katze lief im Schnee“. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Lied in meiner Mama-Laufbahn schon gehört habe, aber es wird wohl eine vierstellige Zahl sein. „Mama, was heißt eigentlich ABC?“ Was hätte ich auf diese Frage antworten sollen? „Das lernst Du erst später!“? Bestimmt nicht. Ich erklärte, dass es ein Alphabet mit 26 Buchstaben gibt, aus denen all unsere Wörter „gemacht“ werden. Niemals hätte ich meinen Kindern das Alphabet schon vor der Einschulung aufgezwungen, um sie zu fördern oder zu drillen. Aber ihre Neugier war geweckt. „Welche Buchstaben sind denn das? Kannst Du die mal sagen?“

Kinder sind wissensdurstig, von Natur aus. Ich finde das fasziniert, für welche Themen sie sich begeistern – und für welche nicht. Wie sie stundenlang in ein Lupenglas schauen können, weil eine Biene darin liegt, wie sie tagelang dasselbe Bibi-und-Tina-Lied hören und es dann plötzlich auswendig können. Ich fände es schade, sie in ihrem Wissendurst auszubremsen und zu sagen:  Das ist noch nichts für Dich, das brauchst Du erst viel später lernen. Wer bei mir fragt, der bekommt auch eine Antwort. Und zwar auch dann, wenn das dazu führt, dass sie in der nächsten Unterrichtsstunde vielleicht schon mehr wissen als ihre Mitschüler. Heißt es nicht immer, Schüler sollten individuell gefördert werden von ihren Lehrern? Besonders in der Grundschule, wo der Wissensstand der Kinder beizeiten sehr unterschiedlich sein kann?

Ich kenne ein Kind – nicht meins – das die erste Klasse überspringen sollte, weil es so gut ist. Und so schnell. Die Eltern haben sich dagegen entschieden. Weil sie ihr Kind in seinem sozialen Umfeld lassen wollten. Und weil sie finden, dass mit Spezialaufgaben oder Sonderaufgaben das Kind in seinem Können gefördert werden kann. Genau das würde ich auch erwarten, wenn ein Kind schon lesen oder schreiben kann, wenn es zur Schule kommt.

Meine Kinder konnten das übrigens nicht. Sie glänzten einzig und allein mit ihrem auswendig gelernten Alphabet. Ein Nachteil entstand ihnen dadurch nicht.

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Autor

Katharina und Lisa

Als drittes von fünf Kindern war Katharina immer klar: Sie will selbst auch eine große Familie haben. Mhhhh - doch dann kam zuerst das Studium, eine Ausbildung und schwupps war sie Ende 20, als ihre Tochter geboren wurde. Heute ist sie, Katharina, 33. Im Januar kam Baby Nr. 2 , der Traum von der Großfamilie besteht immer noch. Und weil die ja nicht nur von Luft und Liebe leben kann, arbeite sie als Journalistin mit Themenschwerpunkt... genau: Familie. Lisa ist 32 und beschäftigt sich, seit sie Mutter dreier Kinder ist, natürlich oft und viel mit Familienthemen. Um nicht ihrem gesamten Freundeskreis mit Kinder-Anekdoten zu nerven, schreibt sie in vielen Ecken und Enden des Internets darüber, z.B. bei www.nusenblaten.de oder www.stadtlandmama.de. Mit Kindern, Mann, Großeltern und vielen Tieren lebt sie direkt am Waldrand. Ihre eigene Kindheit verbrachte sie vor allem auf dem Fußballplatz, auf dem ihr Bruder kickte, während sie mit dem Einrad drumherum kurvte... Gemeinsam schreiben Katharina und Lisa unsere Kolumne "Mama-Streit".

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